Nachrichten | 06. Juli 2020

Genossenschaften: zeitlos, aktuell, modern

Von Petra Littner
Eine eigene Weinlinie innerhalb einer WG? Über diesen Sonderweg sprachen wir mit Dr. Ansgar Horsthemke vom Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband.
Dr. Ansgar Horsthemke ist Ansprechpartner für alle ländlichen und gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften im Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband.
Martin Räpple ist Mitglied beim Kaiserstühler Winzerverein Oberrotweil. In Kooperation mit der WG hat er eine eigene Weingutslinie auf den Markt gebracht, für die er die Trauben produziert und die Weine selbst vermarktet. Wie finden Sie dieses Geschäftsmodell?


Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt durchaus Argumente, die für dieses Engagement sprechen, zum Beispiel, dass junge, gut ausgebildete Winzer sich in einem solchen Rahmen besser verwirklichen können und, ohne in eigene Kellerwirtschaft investieren zu müssen, ihr eigenes Produkt vermarkten können.
Anderseits steht dieses Geschäftsmodell in Teilen im Widerspruch zu unseren genossenschaftlichen Werten. Welche Gründe dafür sprechen, dass ein Mitglied eine eigene Weinlinie hat, ist immer Ergebnis der Diskussion zwischen Mitglied und Genossenschaft. Wir kennen beispielsweise Modelle, bei denen für Mitglieder eigene Weine zum Verkauf in der eigenen Straußwirtschaft/Besenwirtschaft ausgebaut werden. Bei derartigen Konzepten ist immer zu bedenken, dass Individualausbauten eine deutliche Kostenbelastung für eine Winzergenossenschaft sind.
Fazit: Es muss die unternehmerische Entscheidung des Mitglieds gemeinsam mit der Winzergenossenschaft sein, ob so ein Weg unterstützt wird, oder ob eher auf Gemeinschaft gesetzt wird, in der sich ebenso jeder individuell einbringen kann, indem er beispielsweise Weinerlebnisse oder weintouristische Angebote begleitet oder sich im Verkauf und Vertrieb einbringt. 
 
Dass ein Einzelner in einer Genossenschaft eigene Wege geht, ist aber doch eher ungewöhnlich, oder?

Es gibt bereits ähnliche Konzepte. Beispielsweise den oben angesprochenen Wirt der Straußwirtschaft. Darüber hinaus kennen wir durchaus weitere Beispiele für personalisierte Weine: Die Remstalkellerei hat eine Weinhöfe-Linie, bei der die Weingärtner stellvertretend für eine Rebsorte stehen. Ganz nach dem Motto: Dafür stehe ich mit meinem Namen. Als weitere, außerordentlich positive Beispiele möchte ich die Weine der Jungwinzergruppierungen nennen, bei denen den jungen Mitgliedern von der Winzergenossenschaft eine Plattform geboten wird, sich im geschützten Umfeld der Winzergenossenschaft zu entwickeln. Beispiele: Junge Drübel vom Winzerkeller Auggener Schäf, Creatiwi von den Alde-Gott-Winzern Schwarzwald oder auch die Jungwinzer des Winzervereins Oberrotweil mit ihren Weinen vom Totenkopf.

Könnte das Modell dazu beitragen, dass junge, ambitionierte Winzer der Winzergenossenschaft treu bleiben, statt ihre Mitgliedschaft zu kündigen?

An dieser Stelle möchte ich gerne den rheinland-pfälzischen Weinbauminister Volker Wissing zitieren, der unlängst sagte: „Junge Menschen wissen, dass sie gemeinsam stärker sind als alleine.” Deswegen bin ich ganz sicher, dass der Genossenschaftsgedanke zeitgemäßer denn je ist.
Darüber hinaus hilft es, einen Blick in die Historie der Genossenschaften zu werfen. Vor mehr als 150 Jahren drückte es Friedrich Wilhelm Raiffeisen folgendermaßen aus: „Was den Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.” Diese Idee setzten die beiden wichtigsten Gründerväter der Genossenschaften, Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen, um. Damals ging es darum, praktisch und schnell Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten in einer Zeit, geprägt von Hungersnöten und sozialer Ungerechtigkeit. Gerade das arbeitsteilige Wirtschaften und die Bündelung der Kräfte sind die Faktoren, die eine Genossenschaft stark machen und einen Wirtschaftszweig wie beispielsweise die Weinbranche als Ganzes stabilisieren.

Kann das Konzept eventuell eine Lösung für Genossenschaften sein, die wirtschaftlich in einer etwas schwierigen Lage sind?

Jede Genossenschaft muss ihren eigenen Weg zum wirtschaftlichen Erfolg finden. Für die einen liegt dieser in der Verschmelzung zu größeren Einheiten, für die anderen in der Kooperation in einzelnen Betriebsbereichen. Ein dritter Weg kann die eigenständige Besetzung von Vermarktungsnischen sein. Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage zu geben, würde der Thematik nicht gerecht.
Vor dem Hintergrund zunehmender Herausforderungen im Weinbau steht der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband seinen Winzer- und Weingärtnergenossenschaften als strategischer Partner unterstützend zur Seite. 

Im Jahr 2018 wäre Friedrich Wilhelm Raiffeisen 200 Jahre alt geworden. Meinen Sie, er würde heute etwas anders machen?

Nein, sicher nicht. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat im 19. Jahrhundert eine Form des Wirtschaftens mitbegründet, die Menschen darin unterstützt, gemeinsam Verantwortung für ihre Region und ihre Gemeinschaft zu übernehmen, dabei den einzelnen Genossenschaftsmitgliedern ein Mitspracherecht gibt und insgesamt das Wohl aller viel stärker in den Mittelpunkt stellt als den Profit für Einzelne. Raiffeisens Ideen sind zeitlos, modern und aktueller denn je.
Entsprechend hat die Unesco die Genossenschaftsidee und deren Umsetzung in der Praxis auch zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit geadelt. Wenn es Genossenschaften noch nicht gäbe, müsste man sie heute unbedingt erfinden.