Fachliches | 10. Januar 2022

Nachwuchs finden und binden

Von Katarina Mose, Duale Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn
Es ist an der Zeit, nach Strategien zu suchen, mit denen es dem Weinbau gelingt, junge Menschen langfristig für die Branche zu gewinnen. Auf dem Weg dahin sollten sich die Betriebe überlegen, mit wem sie es zu tun haben und welche Herausforderungen die Zukunft bringt.
Generation XYZ: Wer sind die Winzerinnen und Winzer von morgen? Laut Sinus-Studie 2020 spielt für junge Menschen bei der Berufswahl Geld weniger eine Rolle als intrinsische Motive. Die Arbeit muss Spaß machen und Sinn stiften.
Im Weinbau gibt es ein Phänomen, das in der Industrie verwundertes Kopfschütteln hervorrufen würde: Es gilt als vollkommen normal, dass Winzer-Azubis während ihrer Ausbildung den Betrieb wechseln. Allerdings gibt es keine belastbaren Daten, die zeigen, wie häufig die Möglichkeit genutzt wird. In der Regel wird der Wechsel vom Wunsch nach einer Horizonterweiterung getrieben, aber hinter vorgehaltener Hand wird er von manchen Azubis auch als Ausweg genannt, um einem Betrieb zu entkommen, der sie in erster Linie als billige Arbeitskraft sieht.
Warum Betriebe wechselwilligen Azubis grundsätzlich offen gegenüberstehen, ist nachvollziehbar: So können sie ihren Personalstamm immer wieder kurzzeitig günstig aufstocken und sich mit Azubis im zweiten oder dritten Lehrjahr neues Wissen ins Haus holen. Wenn ein Betrieb jedoch ernsthaft Nachwuchs braucht und diesen halten möchte, sollte er einen Azubi vielleicht nicht sofort wieder ziehen lassen.
Wenn sich ein junger Mensch für eine Ausbildung oder ein Studium im Weinbau entscheidet, bringt er oder sie wahrscheinlich schon eine gewisse Begeisterung für das Produkt Wein mit. Viele Azubis oder Studierende kommen von einem Weingut oder haben einen anderen familiären Bezug zum Weinbau. Unter ihnen finden sich abenteuerlustige Wandervögel, wissenschaftlich interessierte Naturliebhaberinnen oder technikverliebte Heimatverbundene. Und das ist schon die erste wichtige Erkenntnis: Sie sind keine homogene Gruppe mit identischen Bedürfnissen.

Nicht das Geld ist Leitmotiv
Das waren sie zwar noch nie, aber heute sind Lebensentwürfe nicht nur individueller, sondern auch kurzlebiger. Davon könnte der Weinbau durchaus profitieren: Berufstätige aus anderen Branchen, die ihren Job hinschmeißen, bringen unter Umständen nützliche Kenntnisse mit. Es könnte sich also lohnen, aktiv nach ihnen Ausschau zu halten.
So finden sich zum Beispiel im dualen Studiengang Wein – Technologie – Management an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Heilbronn neben jungen Erwachsenen, die gerade ihr Abitur abgeschlossen haben, auch ehemalige Lehrerinnen, Lebensmittelchemiker oder Hotelfachleute. Alle haben ihren Berufswechsel bewusst vollzogen und bringen wertvolle Erfahrungen mit, die sie nun in die Ausbildungsbetriebe einbringen.
Die traditionell eher schlecht zahlende Weinbranche sollte sich darüber hinaus den Wertewandel in der jungen Generation zunutze machen. Die Sinus-Jugendstudie 2020 hat Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland zu ihren Kriterien für die Berufswahl befragt. Dabei zeigte sich über alle sozialen Milieus hinweg ein eindeutiger Trend: Nicht Geld, sondern intrinsische Motive überwiegen.
Verantwortung und Werschätzung
Die Arbeit im Weinberg ist hart – gestern wie heute. Damit sich der Nachwuchs entfalten kann, muss aber das Betriebsklima stimmen.
Jugendliche wollen Freude an der Arbeit haben, eigenen Neigungen folgen und sich weiterentwickeln. Viele wünschen sich eine sinnvolle und sinnstiftende Tätigkeit. Neben einem guten Betriebsklima und einem abwechslungsreichen Job wollen sie Beruf und Privatleben gut miteinander vereinbaren können und genügend Zeit für Freundschaften und Familie haben.
Bevor die Weinbranche nun in Jubel ausbricht ob der materiellen Bescheidenheit der jungen Generation, sollte sie sich deren Wertesystem noch einmal genauer ansehen. Denn diese Generation wünscht sich ein Arbeitsumfeld, das die Winzer der Babyboomer-Generation selbst nicht immer angetroffen haben dürften: Überstunden und harte körperliche Arbeit waren damals wie heute an der Tagesordnung. Aber das Betriebsklima war früher nicht nur fordernd, sondern oft auch verbal übergriffig und geringschätzend. In vielen Betrieben sind diese Zeiten zum Glück vorbei.
Doch reicht ein freundliches und familiäres Betriebsklima nicht aus für eine erfolgreiche Nachwuchsentwicklung. Dabei geht es nicht darum, die Jungen in Watte zu packen, ihnen jeden Wunsch zu erfüllen und ihnen nichts zuzumuten. Junge Menschen wollen gefordert werden, aber auch Wertschätzung erfahren. Sie möchten Verantwortung übernehmen und Fehler machen dürfen. Und ja, sie möchten nicht 365 Tage im Jahr 16 Stunden am Tag arbeiten, bloß weil der Familienpatriarch das schon immer getan hat und selbstredend auch vom Nachwuchs erwartet.
Welche Komepetenzen sind gefragt?
Nicht nur die Werte der jungen Generation haben sich gewandelt, sondern auch die Strukturen im deutschen Weinbau: Zwischen 2010 und 2020 ist die Zahl der Betriebe mit ein bis drei Hektar Rebfläche von fast 6300 auf 4700 gesunken. Gab es 2010 noch 5660 Kleinstbetriebe mit bis zu einem Hektar, waren es zehn Jahre später nur noch knapp über 4000. Mit einer Zunahme um 57 % sprunghaft gestiegen ist hingegen die Zahl der Betriebe mit mehr als 20 Hektar: von 617 im Jahr 2010 auf 968 im Jahr 2020.
Die aktuellen Herausforderungen im Weinbau sind hinreichend bekannt und umfassen globale Probleme wie den Klimawandel, Trends wie die digitale Transformation oder landesspezifische betriebswirtschaftliche Themen, wie zum Beispiel die niedrige Exportquote deutscher Weinbaubetriebe oder die viel zu geringen Erlöse im stationären und Onlinehandel.
In diesem Umfeld kann ein Weinbaubetrieb nur bestehen, wenn er ganzheitlich und strategisch plant. Eine aufwendige Umstellung auf ökologischen Anbau erfordert wahrscheinlich andere Vertriebswege als den Lebensmitteleinzelhandel. Der Test neuer Rebsorten muss nicht zwingend im Alleingang erfolgen, und ausländische Absatzmärkte können möglicherweise gemeinsam mit anderen Betrieben einfacher erschlossen werden. Entsprechend stellt sich die Frage nach den zentralen Kompetenzen, die für Betriebe und ihre Nachwuchskräfte zur Bewältigung der genannten Herausforderungen erforderlich sind. 
Interdisziplinär in die Zukunft
Eine Antwort lautet: Interdisziplinarität. In einer immer komplexer werdenden Welt müssen Spezialistinnen verschiedener Fachbereiche eng mit breit aufgestellten Generalisten zusammenarbeiten, um nachhaltige Lösungen für ihre Betriebe zu entwickeln. So reicht das Domänenwissen einer Önologin in der Regel nicht, um ein defizitär arbeitendes Weingut betriebswirtschaftlich neu aufzustellen und dabei auch noch digitale Geschäftsmodelle für die Gewinnung neuer Direktkunden zu entwickeln. Gleichzeitig kann ein Betriebswirt meist nicht beurteilen, welche Bodendaten für die Düngerausbringung im Weinberg relevant sind oder wie man neue Weine entwickelt.
Doch um zurückzukehren zu den Werten der jungen Generation: Für die strategische Nachwuchsentwicklung braucht es auch einen neuen Führungsstil. Winzerinnen und Winzer sind nicht nur Fachleute, sie sind auch Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie müssen es nicht nur aushalten, dass der Nachwuchs in bestimmten Bereichen besser ist als sie selbst; sie sollten sogar nur solche Menschen einstellen oder sie dahin entwickeln. 
Mehr Unternehmer, weniger Selbstständige
Das bedeutet, Vertrauen in seine eigenen Leute zu haben und Verantwortung abgeben zu können. Es bedeutet, nie zu glauben, man wisse schon alles. Sondern bereit zu sein, von anderen und insbesondere den Jungen zu lernen. Und es bedeutet, sich selbst als Unternehmer und Führungskraft Wertschätzung entgegenzubringen und auf die eigene Gesundheit zu achten. All das kann man lernen, wenn man will.
Es heißt bei Stefan Merath, einem deutschen Unternehmer und Unternehmercoach: „Selbstständige arbeiten im Unternehmen, Unternehmer arbeiten am Unternehmen. Wirkliche Freiheit hat nur der Unternehmer, da das Unternehmen ohne ihn funktioniert. Der Selbstständige ist, insbesondere, wenn sein Unternehmen wächst, der Sklave seines Unternehmens.”
Der Weinbau braucht mehr Unternehmer und weniger Selbstständige. Mit ihnen wird der Kulturwandel möglich, der nötig ist, damit sich der Nachwuchs entfalten kann. Dann bleibt er auch.