Wein und mehr | 07. April 2020

Visperterminen: Hochburg der Tradition

Von Mathilde Hulot
Die Weinbauregion Visperterminen in der Schweiz gehört zu den höchstgelegenen in Europa. Sie wird am Leben erhalten von einer Vielzahl kleiner Winzer, die sich als Bewahrer eines Erbes fühlen.
Die Reben im Terrassenanbau an steilen Hängen prägen eine eindrucksvolle Kulturlandschaft im Wallis.
Man muss die Kleinstadt Visp im Tal verlassen und sich auf die Serpentinenstrecke bergwärts in Richtung des Dorfes Visperterminen begeben, um in einem der höchstgelegenen Weinberge Europas anzukommen. Unten verläuft die Vispa als klares, blaues Band. Der Fluss durchquert das Tal von Saas-Fee, bevor er sich in die Rhône ergießt.
Terrassen durchziehen die schwindelerregenden Steillagen links der Straßen. Eng bepflanzte Reben lassen sich von der Frühlingssonne bescheinen. Wir sind im Wallis, in seinem deutschsprachigen Teil. Gelegen auf dem Gebiet von Visperterminen, jedoch erst auf halbem Weg zwischen diesem Dorf und Visp, nimmt die Genossenschaft St. Jodern für sich in Anspruch, über den „höchsten Weinberg Europas” zu verfügen.
Es gibt zwar noch höhere Weinberge, zum Beispiel im Aostatal, in den Pyrenäen oder auf der Kanaren-Insel Teneriffa (bis 1700 Meter).  Hier befinden wir uns „nur” zwischen 650 und 1100 Metern Höhe. Aber wen kümmert’s? Der Schwerpunkt des Interesses liegt ohnehin woanders: Hier erhalten 605 Genossenschaftsmitglieder eine altüberlieferte und für sie sehr bedeutende Tradition.
Stolz auf Gemeinde, Genossenschaft und Wein
„Sie sind stolz auf ihre Gemeinde, ihre Genossenschaft und auf ihren Wein”, freut sich Michael Hock, der junge und sympathische Kellermeister seit fünf Jahren. Schon viel früher als die Walliser haben in diesen Bergen bereits die Kelten Weinbau betrieben. Später haben die Bewohner sich hier auch ihren Bedarf an Milch, Käse, Kartoffeln gedeckt.
Als der Bierkonsum den von Wein überstieg, sah sich der Weinbau bedroht. Daraus resultierte letztlich die Gründung der Genossenschaft St. Jodern im Jahr 1979. Laut Roland Zimmermann, Bürgermeister von Visperterminen zwischen 2000 und 2008, „hat die Kommune dieses Projekt stets unterstützt. Für mich ging es darum, eine Kulturlandschaft zu retten”. Wette gewonnen: Heute bewirtschaften die 605 Mitglieder der Genossenschaft insgesamt 45 Hektar.
Reben hochwertig bewirtschaften
Die Rebe eröffnet den Arbeitnehmern aus dem Tal ein Zubrot, das sie sich mit couragierter Arbeit in den steilen Lagen verdienen. Es handelt sich aber nicht um amateurhafte Liebhaberei. Um Mitglied sein zu können, muss einem ein Stück Land gehören, egal wie groß.
Dazu sind 1100 Schweizer Franken Eintrittsgebühr zu entrichten und man muss sich verpflichten, die Reben so fachkundig zu bewirtschaften, dass bei der Lese Trauben guter Reife erreicht werden können. Eine Kommission überzeugt sich davon, dass die Arbeiten ordentlich erledigt werden.
„Jeder ist für seine Parzelle verantwortlich”, erklärt Michael Hock. „Wir bieten Dienstleistungen  und Pflanzenschutzmittel zum Verkauf an. Aber es steht den Mitgliedern frei, sich bei der Genossenschaft zu versorgen”, ergänzt er. 
Verschiedene Erziehungsformen
Michael Hock (links), Kellermeister der Genossenschaft St. Jodern, und Winzer Alex Berchtold blicken auf einen Weinberg, von dem gesagt wird, er sei der höchste Europas.
Es gibt hier mehrere Erziehungsformen der Reben, was ein buntes Bild ergibt: klassische Spaliererziehung bis Einzelpflanzen an Metallpfählen. Die Arbeit ist schwer an den sehr steilen Hängen und man muss sich organisieren, um sie gut zu bewältigen, so wie der 68-jährige Alex Berchtold.
„Ich bewirtschafte 1400 Quadratmeter, was schon viel ist für einen Einzelnen”, erklärt er. Im Durchschnitt sind es 600 Quadratmeter pro Bewirtschafter. Alex hat zuvor in Visp in der Pharmaindustrie gearbeitet. Nun ist er Rentner, was ihm Gelegenheit gibt, sich in aller Ruhe seinen Reben zu widmen.
Er rechnet: Der Rebschnitt benötigt 20 Stunden pro Jahr, ebenso viele wie das Ausbrechen. „Als ich jung war, musste ich meinen Eltern helfen. Als ich die Reben vererbt bekam, habe ich mich verantwortlich gefühlt. Es ist wichtig, sie in der Familie zu halten.” Seine Frau, die „noch begeisterter ist als ich”, wie er sagt, hilft bei den Arbeiten mit.
Der Verkauf der Trauben bringt ihm rund 8000 Schweizer Franken (7338 Euro). Er behält keine Trauben für sich zurück, sondern kauft Wein in der Genossenschaft mit zehn Prozent Rabatt, wie die anderen Genossenschaftsmitglieder auch.
Schwieriges Relief, gutes Klima
Alex Berchtold bewirtschaftet 1400 Quadratmeter Reben.
Während die Geländeeigenschaften die Dinge kompliziert machen, sorgt das Klima für einfache Verhältnisse. Es regnet hier nur zwischen 450 und 500 Millimetern pro Jahr. „Es ist die trockenste Region der ganzen Schweiz. Die Wolken passieren den Simplon und entladen sich in Brig – hier bekommen wir nichts ab”, bestätigt Michael Hock. Bewässerung ist erlaubt. Jedes Mitglied bewässert so gut es ihm erscheint, mit Beregnung oder Tröpfchenbewässerung. Wie bewältigt die Rebe Kälte in der Höhenlage? „Sie sind alle nach Süden ausgerichtet und werden somit gut besonnt. Und der Boden und die Trockenmauern speichern die Wärme des Tages und geben sie nachts wieder ab, ähnlich einer Batterie. Im Allgemeinen sinkt die Temperatur im Winter nicht unter minus zehn Grad und wir sind gut geschützt vor Frühjahrsfrösten”, erläutert der Chef im Keller.
Mit Ausnahme von 2017, als beißender Frost aus dem Norden zu 65 Prozent Ernteverlust führte. Die Lese läuft leicht über fünf Wochen. Sie ist ein schwieriges Puzzlespiel: Zwölf Rebsorten müssen mit gutem Reifegrad eingebracht werden, von Parzellen, die sich innerhalb von 450 Metern Höhendifferenz erstrecken. Die Genossenschaft schafft es, die Weine mit hoher Wertschöpfung zu verkaufen und so den Winzern ihre Trauben gut zu bezahlen: mindestens vier Schweizer Franken (3,70 Euro) je Kilo bis hoch auf 6,88 Schweizer Franken (6,30 Euro) für die Sorte Heida.
Wenn nötig, nimmt die Genossenschaft Flächen in Pacht, um zu verhindern, dass sie aufgegeben werden. Seit 2015 gibt es ein kleines Team, das sich um Parzellen kümmert, die auf Übernehmer warten. Sie bietet zudem jungen Leuten Ausbildungsmaßnahmen an. Diese Kurse sind sehr gefragt. „Man hat sich zu Anfang gesagt, dass man bei weniger als zehn Teilnehmern die Idee fallenlassen will. Es sind letztlich 60 geworden”, betont Michael Hock. Die Weinbautradition von Visperterminen wird fortbestehen.
Heida als Aushängeschild
2019 war der erste Jahrgang für die kontrollierte Herkunftsbezeichnung (AOC) Heida Valais Visperterminen Grand Cru. Diese Appellation darf nur Heida verwenden, die in Visperterminen angebaut wird. Die weiße Rebsorte wird seit dem 19. Jahrhundert in Visperterminen kultiviert. Die einfache AOC Heida Valais Visperterminen gibt es schon lange. Ihre Produktionsregeln sind weniger streng. So ist der Verschnitt erlaubt mit 15 Prozent einer anderen Rebsorte und mit zehn Prozent von Heida-Trauben aus dem Wallis, die außerhalb von Visperterminen gewachsen sind.