Wein und mehr | 09. Juni 2020

Tessin: Alles mit Merlot

Von Mathilde Hulot
Im Tessin, dem italienischen Teil der Schweiz, bewirtschaften alteingesessene Familien und einige Investoren, die von der Schönheit der Landschaft angezogen sind, rund 1000 Hektar Reben. Sie setzen vor allem auf Merlot.
Terrassenweinberge überragen den Luganer See; Hagelschutznetze sind in der ganzen Region notwendig. Meinard C. Perler bewirtschaftet in Genestrerio 24 Hektar mit mehr als 20 Rebsorten, darunter 65 Prozent Merlot (r.). Ivo Monti (Mitte) führt die Cantina Monti. Er hat sich in Bordeaux und Beaune (Burgund) weitergebildet. Er bewirtschaftet fünf Hektar Terrassenweinberge.
Der Merlot ist gut vertreten nach der Reblaus, die erst spät den Kanton im Süden der Schweiz erreichte. Es gibt ihn im Tessin seit 2006, eingeführt aus Frankreich, wie Cabernet sauvignon, Malbec und zahlreiche andere Sorten.
Viele Sorten davon hat es hier nicht lange gehalten. Der Merlot hat aber Wurzeln geschlagen, weil sich herausstellte, dass er hier gut reift und sich vielseitiger zeigt, als man es sich in Frankreich vorstellen konnte. Zwei gute Gründe, ihn sich zu bewahren.
Ab den Sechzigerjahren ist er an Bondola und Isabelle vorbeigezogen. Zwei Jahrzehnte später setzte er sich als Leitrebsorte durch. Heute wächst Merlot auf 82 Prozent der Rebfläche. 
 
Beliebtes Aperitif
Nirgends sonst  präsentiert er sich wie hier. „Man macht alles mit Merlot”, betont schmunzelnd Andrea Conconi, Geschäftsführer von Ticinowine, der Werbeeinrichtung für Weine der Region: weiß gekelterte Weine, Schaumweine, edelsüße Weine aus überreifen Trauben und natürlich Rotweine und Roséweine.
Von den 85 Weinerzeugern und Händlern im Tessin gehören 45 der Organisation Ticinowine an. Die Einrichtung zur Absatzförderung der Mitglieder hat sich einen originellen Ort ausgesucht, um darin ein Weinhaus unterzubringen: die alte Mühle von Ghitello, am Eingang des Naturparks der Schlucht von Breggia, wo man geologische Schichtungen entdecken kann, von denen die ältesten 200 Millionen Jahre alt sind. Die Mühle wurde saniert und darin ein Restaurant für Spezialitäten aus dem Tessin und Weinverkaufsmöglichkeiten für die Mitglieder untergebracht. Ticinowine organisiert das ganze Jahr über Veranstaltungen. Die Vereinigung ist zudem offizieller Sponsor des Filmfestivals von Locarno. 
Die Weißen aus Merlot (bianco di merlot) sind in den Achtzigerjahren entstanden, als es eine Überproduktion an Rotwein gab und es an Weißwein fehlte. Die Trauben von jungen Reben werden früh gelesen, die Moste per Kohlebehandlung entfärbt. Mit ihren Gäraromen begeistern sie vor allem Bewohner der deutschsprachigen Schweiz, die diese Weine in erster Linie als Aperitif genießen.
Die ersten Schaumweine (spumante ticino DOC) sind im selben Zeitraum entstanden. Die mit 1122 Hektar viertgrößte Weinbauregion der Schweiz ist die am dichtesten mit roten Trauben bepflanzte des Landes: Sie nehmen 1019 Hektar ein, auf nur 103 Hektar reifen weiße Rebsorten.
Trauben werden zugekauft
Der Kellereibetrieb Fratelli Valsangiacomo Vini in Chiasso wurde 1831 gegründet. Dieses Familienunternehmen produziert 90 Prozent Merlot.
Mehr als ein Drittel der Weinberge des Tessin befinden sich in Medrisiotto, im südlichsten Zipfel der Schweiz, wo Beton die Landwirtschaft schon klar überflügelt hat. Hier befindet sich die einzigartige Genossenschaftskellerei des Tessin, die Cantina Sociale de Mendrisio, der Bezirkshauptstadt. Und hier haben zudem die zwei ältesten Weinunternehmen des Landes ihren Sitz: Fratelli Corti in Balerna, das auf 1792 zurückgeht, und Fratelli Valsangiacomo, gegründet 1831 in Chiasso. Der Familie Valsangiacomo gehören zwölf Hektar und sie kauft je nach Jahren zwischen 800 und 2000 Doppelzentner Trauben aus einem Umkreis von 60 Kilometern zu.
„Wir können so unterschiedliche Qualitätsstufen anbieten”, erklärt Umberto, der Sohn. Dieser Betrieb erzeugt zu 90 Prozent Merlot, dazu etwas Cabernet franc, Syrah und Chardonnay. Mit 91 Jahren schaut der Vater Cesare noch nach dem Rechten. Er ist einer der ersten Önologen mit Diplom der berühmten Schweizer Schule in Changins.
In den Fels gehauene Gewölbe
Der historische Keller ist in den Berg hineingetrieben. Diese außergewöhnliche Umgebung macht die Besonderheit dieser Ecke des Tessin aus: die Grotte di Monte Generoso. Diese über vier Stockwerke reichenden Gewölbe wurden mindestens seit dem 18. Jahrhundert gegraben, um als Vorratskammern zu dienen.
Es gibt davon 120. Einige wurden zu Restaurants, Empfangsräumen oder extravaganten Herbergen umgewidmet. Bei Andrea Ferrari in Capolago, einige Kilometer nördlich von Mendrisio, erfährt man, wie diese Keller funktionieren.
Der Vierzigjährige hat sich hier 2015 mit seinem Vater Alberto niedergelassen. Ihr Keller, der sich auf dem tiefesten Niveau der Grotte befindet, ist in mehrere kleine Räume aufgeteilt, die mit Fässern gefüllt sind. Frischluft tritt über Tonröhren ein, die in die Mauern eingelassen sind. Im Sommer beträgt die Temperatur hier 12 bis 13 Grad Celsius und ein oder zwei Grad weniger im Winter. 
Winzer durch Zufall
Andrea füllt etwa 50.000 Flaschen pro Jahr ab. Er baut natürlich Merlot aus, hat jedoch auch eine Cuvée aus fünf Rebsorten im Angebot mit Namen Castanar Riserva. Dieser Wein verbringt 46 Monate in neuen Fässern. Er erzeugt davon einige tausend Flaschen und verkauft sie zum Preis von 42 Euro an Privatkunden.
In Genestrerio gehört Meinard C. Perler zu den Charakterköpfen der Weinbaulandschaft des Tessin. Während die anderen Weinberge sich an den Flanken der Berge befinden, sind seine eine grüne Insel in einem komplett verstädterten Bereich. Der ehemalige Banker, der zwischenzeitlich zum Großlandwirt in den USA wurde, ist durch Zufall Winzer geworden.
In den Achtzigerjahren, mit 50, hat er sich im Tessin niedergelassen und Chasselas (Gutedel) gepflanzt, weil er „als guter Romane diesen seit seiner Kommunion trank”. Das wurde jedoch nichts. Er hat sodann Syrah und Cabernet sauvignon aufgepfropft. Seitdem kultiviert er mehr als 20 Rebsorten, „nur” 65 Prozent der Reben sind Merlot, sagt er. Mit 82 Jahren führt dieser unechte Rentner noch immer sein Gut Agriloro  mit 24 Hektar, wozu auch „rebsortenkundliche Gärten” gehören  mit mehr als 600 Sorten.
„Weniger verdienen, besser leben”
Nördlich des Luganer Sees, in Cademario, ist Ivo Monti auch erst im vorgerückten Alter zum Weinbau gekommen. Der ehemalige Offizier bei der Handelsmarine und spätere Vermögensberater hat 2004 die Nachfolge von seinem Vater Sergio angetreten. In der Cantina Monti kultiviert er auf zwei Drittel der fünf Hektar Reben Merlot.
Die terrassierten Rebflächen befinden sich auf 550 Metern Höhe. Man hat von hier aus einen Blick hinunter ins Tal und auf den Flughafen von Lugano. „Ich verdiene fünfmal weniger als vorher, aber ich lebe dafür zehnmal besser”, überschlägt er seine persönliche Bilanz.

               
 





 
Stolze Preise
Dennoch gibt es seine Weine nicht geschenkt: Seine Weißen verkauft er für 25 Euro/Flasche, seine Roten kosten zwischen 30 und 40 Euro. 70 Euro lautet der Preis für den Canto della Terra, einen Merlot von alten Reben, mit einem Jahr Reife im Fass.
Seine Kunden sind überwiegend deutschsprachige Schweizer. „Die besten Freunde des Menschen”, versichert er, um zu unterstreichen, dass sie nicht so aufs Geld schauen.
Ganz im Norden des Tessin steht Delea für andere Verhältnisse.
Das Gut hat seinen Standort im Gewerbegebiet von Losone. Es erzeugt 600.000 Flaschen von 70 Hektar Reben, die es bewirtschaftet, und von zugekauften Trauben. 2010 wurde eine Brennerei übernommen. Seither gehören unterschiedliche Grappas zum Sortiment: la Bionda, la Bruna und der Bianca Grappa Ticinese, zum Teil natürlich aus Trester von Merlot. Überall im Tessin führt diese Sorte aus Bordeaux das Regiment.