Wein und mehr | 05. April 2018

Weintourismus im Blut

Von Pierrick Bourgault
In der Tradition seiner langen Geschichte als handelstreibende Region bietet Venetien große Mittel auf, um Weintouristen anzulocken. Selfies ausdrücklich erwünscht.
Bei Masi hat sich die Aussichtsplattform, auch Mirador genannt, zu einem beliebten Anziehungspunkt entwickelt:
Venetien ist seit jeher bekannt für seinen ausgeprägten Sinn für Handelsgeschäfte. Im Mittelalter stand Venedig für den Warenaustausch zwischen Europa und dem Orient. Die Region hat es verstanden, diese Begabung auch heute für den Empfang von Touristen zu nutzen. Venetien ist in Menge und Umsatz die bedeutendste Weinregion Italiens. Sie liegt 2017 mit 8,1 Millionen Hektoliter vor Apulien. Produziert werden Weiß- und Rotweine nach internationalem Geschmack, jedoch auch etliche lokale Spezialitäten. Die Ursprungsregion Valpolicella hat davon einige aufzubieten: Ripasso, ein Wein, der ein zweites Mal gärt, nach Zusatz von rosinierten Beeren. Recioto, ein Strohwein, bei dem die Gärung gestoppt wird, wenn der Zuckergehalt 100–130 g/l beträgt. Amarone, ein weiterer Strohwein, der vollständig gärt. Wenn man noch die Menge der lokalen Sorten hinzuzählt, bekommt man eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit des Angebots dieser Region. Pädagogik und Kommunikation sind daher unabdingbar, damit sich das Publikum zurechtfindet. In dieser Materie sprudeln die Italiener vor Vorstellungskraft und „gewusst wie”.
Kleine Museen in vielen Weingütern
Selbst ein traditionelles Museum erfreut Besucher, wenn sie dazu Dinge und Begebenheiten erläutert bekommen.
Zahlreich sind Weingüter, die ein Museum haben und die auf großen Karten ihre Parzellen und Rebsorten darstellen. Im Zeni Wine Museum in Bardolino entdecken die Besucher zuallererst alte Landini-Traktoren, Pferdekarren und -pflüge, schöne alte Holzfässer und alte Pressen. In den Innenräumen geht es an der unvermeidlichen Kartendarstellung des Gutes vorbei zu Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Familie, Bütten, alten Waagen und sogar zu einer Sammlung von Messingbeschlägen. Die Inszenierung des Museums der Villa Canestrari in Illasi, in der Nähe von Verona, ist etwas ausgefeilter. Verschiedene Einrichtungsgegenstände sind hier zusammengestellt worden, um 150 Jahre Geschichte wiederzugeben: Ein altes Direktionsbüro mit Schreibmaschine, Bilder aus jener Zeit, handgeschriebene Verzeichnisse und eine Einrichtung zum Trocknen von Trauben auf Schilfrohr. Great Wine Capitals Global Network hat ihm die Auszeichnung „Best of Wine Tourism” verliehen.
Die Genossenschaft Valpolicella Negrar empfängt gerne Besuchergruppen.
Im Museum der Genossenschaft Valpolicella Negrar erhält man erklärt, wie die Trocknung der Trauben funktioniert, um Weine aus rosinierten Beeren zu erhalten. Man lernt hier, dass die Trauben während drei Monaten an Drähten befestigt und auf Gitter aus Bambus ausgelegt werden. „Im 19. Jahrhundert gab es hier mehr als 180 Rebsorten. Die Reblaus hat einen guten Teil zerstört. Heutzutage kommen bei jeder Lese rund 50 verschiedene Sorten bei unserer Genossenschaft an”, erklärt der Führer. „Haben Sie WLAN? Das ist die erste Frage, die uns Besucher neuerdings stellen. Sie wollen über ihren Museumsbesuch in den sozialen Netzwerken erzählen”, stellen die Winzer fest. Letztere könnten sich darüber ärgern, dass diese Touristen es eiliger haben, Fotos und Videos zu posten, als ihre Weine zu probieren. Aber das Gegenteil ist der Fall – sie ermuntern sie dazu. „Wenn sie sich im Bild festhalten wollen, erachten sie den Besuch als erinnerungswürdig”, begründen sie.
Besucher-Selfies – beste Werbung für das Weingut
Der Besuch des Weingutes beinhaltet auch eine Inszenierung mit Geräuschen und Bildern im Inneren eines Gärbehälters
Und ohne zu zögern geben die Erzeuger zum Beispiel Tipps für einen guten Platz zum Fotografieren der Gruppe oder richten selbst  „spektakuläre” Plätze ein. So haben einige, wie das Weingut Masi, eigens einen Aussichtsturm. Das Markenemblem des Gutes ist selbstverständlich so platziert, dass es möglichst auf den Fotos drauf ist. „Die Kunden sind vernarrt in Selfies. Wenn sie diese posten, machen sie Werbung für uns bei ihren Freunden”, sagen die Betreiber.Masi hat im September 2017 ein eindrucksvolles „Weinuniversum” eröffnet: Masi Wine Experience. In Gruppen zu 16 Personen treten die Besucher in einen Gärbehälter ein, auf dessen Wände Bilder projiziert werden. „Herzlich willkommen. In drei Minuten werden Sie sieben Tage Gärung erleben”, erklärt eine Stimme. Man sieht, wie sich der Tresterhut bildet, und hört das Geräusch der Bläschen aus Kohlendioxid. Eine schönes und lehrreiches Show-Element. Im Museum Masi kann man unter anderem Filme sehen wie einen Rebenüberflug mit Drohne oder   die Trocknung der Trauben. Keines dieser Videos ist mehr als 50 Sekunden lang, die Maximaldauer, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten. Auf einer Tafel finden sich alle Labels vereint, über die das Gut verfügt: Vegan, Bio, Eco-friendly packaging & recycling, nachhaltiger Weinbau, Wine in Moderation und andere. Das Fahrzeug für den Besuch der Reben  hat selbstverständlich einen Elektroantrieb. Jedes Jahr verleiht die Stiftung Masi einen Preis an eine bekannte Persönlichkeit, „um nicht nur auf Masi, sondern auch auf Valpolicella aufmerksam zu machen”. Der Besuch endet im Verkaufsraum des Weinguts der Familie, die insgesamt 800 Hektar in Italien und Argentinien bewirtschaftet. In mehr klassischer, aber sehr hochwertiger Aufmachung erscheint Villa Cordevigo. Das Weinhotel vermietet seine Kapelle für Hochzeiten. Das Festbankett findet sodann in seinem Restaurant L’Oseleta statt, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet ist. Wenn das Fest beendet ist, warten 34 Zimmer auf die geladenen Gäste – in der Mehrzahl vermögende Ausländer. Venetien brilliert im Weintourismus. Auch die Kommunalverwaltungen sind dabei. So werden in der kleinen Stadt Soave im Januar öffentlich Trauben gepresst, die zuvor ab dem Herbst zum Trocknen aufgehängt worden waren.
Sensoriell noch besser als virtuell
Besucher auf dem Aromenparcours des Weinguts Zeni schreiben ihre Eindrücke mit Kreide auf Tafeln.
Während  Kollegen auf Hightech und virtuelle Realität setzen, will das Weingut Zeni zum Essenziellen zurückkehren: der Fähigkeit des Weines, die Sinne zu wecken. Vor Kurzem hat das Familienunternehmen in Bardolino, gegründet 1870,  einen Aromenparcours eröffnet. Dort sind Parfümbehälter  in rotem Dämmerlicht, der Farbe des Valpolicella, aufgereiht. Die wahrgenommenen Aromen schreiben Besucher  mit Kreide auf Tafeln. Es sind  Aromen, die in den Weinen des Gutes zu finden sind. Die Tafeln sollen daran erinnern, dass man auch noch  schreiben kann.  Radovan Littua, der in sieben Sprachen durchs Gut führen kann, teilt seine Gäste in Teams auf, beispielsweise Frauen gegen Männer.  Während des Parcours speichern die Besucher die Aromen ab und bereiten sich so spielerisch darauf vor, sie bei der Verkostung wiederzuentdecken.